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Anna Jelmorini dirigiert in St. Gallen eindringlich Dvořáks «Stabat Mater»

Verführerin und Dompteurin: Anna Jelmorini stachelt den Bach-Chor St.Gallen in Dvořáks «Stabat Mater» zu Höchstleistungen an. Grosse Begeisterung beim Publikum am Samstagabend in der Kirche St.Laurenzen St.Gallen: Der Bach-Chor St.Gallen, intensiv von seiner Dirigentin Anna Jelmorini angespornt, bot mit Antonín Dvořáks «Stabat Mater» geistliche Musik von hoher interpretatorischer Qualität.

Leider sieht man Anna Jelmorini, seit vierzehn Jahren Dirigentin des Bach-Chores St.Gallen, im Konzert immer nur von hinten. Man erahnt lediglich ihre Leidenschaft, ihr Charisma, ihre Mimik, mit der sie Chor, Orchester und Solisten anzufeuern vermag. Aber man hört es und sieht es an den Gesichtern der Beteiligten, welche Früchte Jelmorinis Einsatz für die Musik unmittelbar trägt.

Schon der Beginn von Antonín Dvořáks ergreifendem «Stabat Mater» geriet voller Passion. Anna Jelmorini bringt die auch am Schluss wiederkehrende, in Halbtönen absteigende, ja tastende Melodie in einer ersten Steigerung zu mächtiger Energieentfaltung. Die nächsten neunzig Minuten liess diese Intensität des Anfanges in keiner Passage nach. Dvořáks «Stabat Mater» ist ein sehr persönlich wirkendes geistliches Vokalwerk. Kaum vorstellbar, wie sich der Komponist fühlen musste, innerhalb von zwei Jahren drei Kinder zu verlieren. Dass sein «Stabat Mater» immer auch Ausdruck und Trost für den eigenen Schmerz ist, macht das Werk umso ergreifender.

Anna Jelmorini reisst die Beteiligten mit, spornt sie an, ist Klang-Verführerin und Klang-Dompteurin zugleich. Sie kann Orchester, Chor und Solisten zu einem organischen Ganzen zusammenführen und dirigiert einen Dvořák der grossen Bögen und kraftvollen Wellen. Das angenehme Fliessen der musikalischen Linien wirkt, bei aller Kraftentfaltung, ohne Anstrengung, die Intensität nie forciert. Dieses «Stabat Mater», das gerade in den mittleren Teilen auch viel tröstlich Helles verströmt, wird so zu einem fein abschattierten Wiegen und Wogen in Schmerz und seiner Linderung.

Manuel Walsers eindringlich intimes Solo

Nach dem ersten mitreissenden Einstieg mit einen Bach-Chor St.Gallen, der auch die hohen, kraftvollen Passagen selbstbewusst und genau intoniert singt, konnte man im klagenden Quartett der Solistinnen und Solisten dann erleben, wie durchdacht diese Interpretation auch einzelne Orchesterstimmen mit den Soli verzahnt hat, etwa die Posaune mit den Frauenstimmen.

Mit Léonie Renaud (Sopran), Marina Viotti (Alt). Bernard Richter (Tenor), der kurzfristig für den erkrankten Rolf Romei einsprang, und Manuel Walser (Bass) stand ein hervorragendes Gesangsquartett zur Verfügung. Die Sopranistin und der Tenor mit heller, direkter und strahlender Diktion, die Altistin und der Bass mit runderen, warmen und farblich abgestimmteren Nuancen. Als einen solistischen Höhepunkt mag man Manuel Walsers Solo hervorheben. «Mach, dass mein Herz entbrenne», den vierte Abschnitt des zehnteiligen Werks, sang Walser, der gebürtige Teufner, mit fesselnder Intimität, die Passagen wirkten sehr fein abgerundet. Und dynamisch subtil vermochte er den Satz seines Solos in immer stärker werdender Eindringlichkeit zu gestalten.

Hohe Konzentration auch in den Schlusspassagen

Mit fast umgarnender Geste sang der Bach-Chor St.Gallen die feinen Verzierungen im siebten Abschnitt. Ein hell-strahlendes Sopran-Tenor-Duett und das berührend nachdenklich gehaltene Alt-Solo leiten zum Finale des packenden Werks über, das hier mit grossen dynamischen Unterschieden und überraschenden Wechseln zwischen Orchester und Chor nochmals allen hohe Konzentration abverlangte. Mit der Camerata Schweiz, die erstmals mit dem Bach-Chor konzertierte, war ein wunderbar aufmerksames Orchester engagiert, das nicht einen bloss routinierten Klangteppich garantierte, sondern sich, auch im Detail, ebenfalls von Anna Jelmorinis Leidenschaft anstecken liess und ein sehr offenes Ohr bei der Einbettung der vielen vokalen Feinheiten bewies.

Martin Preisser, St. Galler Tagblatt, 19.11.2023

 

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